Einleitung: Warum die gängige Definition in die Irre führt
Wer sich mit glutenfreier Ernährung, Zöliakie oder den Backeigenschaften von Getreide beschäftigt, stößt fast überall auf die gleiche Erklärung:
„Gluten ist ein Sammelbegriff für verschiedene in Getreide vorkommende Eiweiße.“
„Gluten verleiht Teigen ihre elastische Struktur und ist entscheidend für die Backeigenschaften von Brot und anderen Gebäcken.“
Diese Definition wird in Lehrbüchern, Artikeln und auf Webseiten fast wortgleich wiederholt – und genau hier liegt das Problem:
Sie klingt plausibel, ist aber technologisch ungenau und kann zu falschen Vorstellungen führen.
Gluten entsteht nicht im Korn
Gluten ist kein fertiges Protein, das einfach so im Getreidekorn liegt.
Tatsächlich ist Gluten ein komplexes, viskoelastisches Netzwerk, das sich erst bildet, wenn die beiden Hauptproteingruppen – Prolamine und Gluteline – mit Flüssigkeit in Kontakt kommen und mechanisch bearbeitet werden, zum Beispiel durch Kneten.
Kerndefinition:
Gluten entsteht erst aus Mehl + Flüssigkeit + mechanischer Energie (z. B. Kneten) durch das Zusammenspiel von glutenbildenden Prolaminen und Glutelinen.
Dieses Netzwerk, das sogenannte Glutengerüst, sorgt dafür, dass Teige dehnbar sind, Gase halten und beim Backen ihr Volumen behalten.
Aber nicht jedes Prolamin kann Gluten bilden
Nur bestimmte Getreidearten enthalten Prolamine, die zusammen mit den passenden Glutelinen ein stabiles Glutengerüst bilden können:
- Gliadin in der Familie der Weizen Weichweizen, Hartweizen (Durum), Dinkel, Emmer, Einkorn, Kamut/Khorasan-Weizen
- Secalin in der Familie der Roggen: Kulturroggen, Waldstaudenroggen
- Hordein in der Familie der Gerste: gemeine Gerste, Zweizeilige Gerste und Mehrzeilige Gerste.
Andere Getreide und Pseudogetreide – wie Hafer (Avenin), Mais (Zein) oder Reis (Oryzin) – enthalten zwar ebenfalls Prolamine, können aber kein Glutengerüst bilden.
Hafer und Zöliakie – warum die Verträglichkeit unterschiedlich ist
Für die meisten Menschen mit Zöliakie ist glutenfreier Hafer gut verträglich, solange er nicht mit glutenhaltigen Getreiden verunreinigt ist.
Eine kleine Minderheit reagiert jedoch trotzdem empfindlich – und zwar nicht auf Gluten, sondern auf das Haferprolamin Avenin, das zwar nicht glutenbildend ist, aber individuell Beschwerden verursachen kann.
Zöliakie wird nicht durch das fertige Glutengerüst ausgelöst
Bei Zöliakie reagiert das Immunsystem nicht auf das fertige, geknetete Glutengerüst.
Entscheidend sind die Prolamine selbst: Ihre molekularen Strukturen werden vom Immunsystem als schädlich erkannt – ganz unabhängig davon, ob sie ein Glutennetz gebildet haben oder nicht.
Das bedeutet: Schon kleinste Mengen dieser Proteine können eine Immunreaktion auslösen.
Deshalb kann selbst bei einer glutenfreien Pizza eine Kontamination mit normalem Mehlstaub im Ofen, auf dem Teller oder auf dem Belag problematisch sein – auch wenn das Gluten noch gar nicht durch Kneten entstanden ist.
Fazit: Die präzisere Definition von Gluten
Die oft zitierte Definition von Gluten als bloßer „Sammelbegriff für Eiweiße“ greift zu kurz.
Korrekt ist: „Gluten entsteht erst aus Mehl + Flüssigkeit + Kneten durch das Zusammenspiel von glutenbildenden Prolaminen und Glutelinen.“
Für Menschen mit Zöliakie sind die Prolamine in Weizenarten, Roggenarten und Gerstenarten das Problem.
Prolamine aus Hafer, Mais oder Reis können kein Glutengerüst bilden, werden aber in seltenen Fällen trotzdem nicht vertragen – das ist dann eine andere Unverträglichkeit.